Elementares Schreiben – Chronik

Elementares Schreiben
Chronik

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Heute möchte ich eine anonyme Einsendung vorstellen, die es mir besonders angetan hat. Es handelt sich um eine Doppelseite aus einem Wochenkalender – wobei das dem Zauber dieses Dokuments nicht im Ansatz gerecht wird. (Zum Schutz der Persönlichkeit habe ich alle Namen geschwärzt.)

Was bitte soll man von einer Kalenderseite über das Schreiben lernen können? Die Frage ist nicht unberechtigt, aber ich bitte euch, jedwede Skepsis für ein paar Absätze hintenanzustellen. Was man an diesem Kalender lernen kann, sind in meinen Augen zwei für das Notieren ganz und gar wesentliche Punkte: Disziplin und ästhetische Umsetzung. Beide Punkte haben wiederum einen Einfluss darauf, wie nützlich gemachte Notizen zu einem späteren Zeitpunkt sind.

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Disziplin

Notieren ist eine Schreibpraxis, die ein erschlagendes Maß an Freiheit bietet. Schließlich sind Notizen in der Regel nicht zur Veröffentlichung gedacht. Kein:e Lektor:in wirft kritische Blicke darauf. Es gibt keine Lesenden, deren Erwartungen man enttäuschen könnte. Man kann einfach darauf losschreiben, nach Lust und Laune Gedankenfetzen, Beobachtungen und Gefühle festhalten. Dazwischen vielleicht noch ein, zwei Termine und ein paar Telefonnummern. Ich sage nicht, dass diese Form des Notierens falsch wäre. Es ist nicht mein Anliegen, irgendwem zu erklären, wie man richtig notiert. Der Punkt ist nur, dass es sehr einfach ist, ein unbewusstes Verhältnis zum Notieren zu haben.

Dieser Kalender – mag er auf den ersten Blick auch bunt und chaotisch aussehen – geht einen anderen Weg. Er hält sich strikt und diszipliniert an die Form der Chronik. Es gibt eine klare Entscheidung darüber, was hier notiert wird und was eben nicht. Im Gespräch erzählte mir die Autorin, dass sie nur "Termine und Verabredungen" aufschreibt, also die Events ihres Berufs- und ihres Privatlebens. Dazu kommen noch Erledigungen und Reisen. Aber das wars. Auf dieser Seite ist das recht schön zu sehen.

Die Disziplin der Chronik geht aber noch weiter. Drei aufeinander folgende Abende verbringt die Autorin damit, mit der gleichen Person zum Abendessen zu gehen. Einmal in einem Restaurant, einmal "auf seinem Balkon" und einmal an einem nicht näher genannten Ort. Wer ist diese Person für die Autorin? Lernen sich die beiden gerade kennen? Haben sie ein großes Thema zu besprechen, vielleicht einen Konflikt, der an einem Abend nicht geklärt werden kann? Darüber erfahren wir nichts. Gefühle sind nicht Teil der Chronik. Wir erfahren nicht einmal, ob das Essen geschmeckt hat, oder wie sich die Abende allgemein für die Autorin angefühlt haben.

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Vielleicht seid ihr bereits disziplinierte Notierer:innen. Ich persönlich finde es aber nur zu leicht, mich beim Notieren in meinem eigenen Kopf zu verlieren, meine Gefühle hin und her zu wälzen und ins Schreiben eines Tagebuchs abzudriften. Der Gag ist nun, dass eine Chronik oft eine bessere Erinnerungsstütze ist als eine ausladende Beschreibung des eigenen Innenlebens. Ich habe selten Lust, seitenweise meine Gefühle von vor einem Jahr nochmal durchzukauen. Sie überlagern den faktischen Gehalt und zwingen mich geradezu, mich nicht an ein Event, sondern an meine eigenen Gefühle dazu zu erinnern. Die Autorin sagte mir, sie interessiere sich mehr dafür, was und wer in ihrem Leben relevant war und nicht. "Die Gedanken dazu habe ich ja noch", sagt sie. Ich würde sogar noch weiter gehen. Gerade die Leerstellen in der Chronik machen die Erinnerung an vergangene Ereignisse produktiv. Das Füllen von Leerstellen in der eigenen Erinnerung kommt dem Erzählen von Geschichten nämlich sehr nah.

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Ästhetik

Das zweite Elemente der Kalenderseite, das mich fasziniert, ist die ästhetische Gestaltung. Hier wird nicht einfach trocken festgehalten. Verschiedene Farben und Markierungen kommen zum Einsatz. Die Logos von Restaurants und Orten, die besucht wurden, werden entweder eingeklebt oder selbstständig gezeichnet. Es wird auf den ersten Blick klar, dass sich hier jemand Zeit genommen hat. Die Autorin erzählte mir dann auch, dass der Kalender für sie einen "Meditationscharakter" habe. Im stressigen Alltag werden extra Zeiten geblockt, an denen die Chronik ergänzt und vervollständigt wird.

Der Kalender wird damit zum Paradebeispiel einer ästhetischen Praxis. Der Zweck der Praxis liegt in ihrer Ausübung selbst und diese Ausübung wiederum ist mit Gefühlen von Lust und Kreativität verbunden. Das kann man auf der zweiten Seite besonders gut erkennen.

Die Autorin hat offenbar eine Reise gemacht. Man sieht, wohin sie geflogen ist, was sie sich dort angesehen hat, wo sie zum Essen war. Wieder fehlen Verweise auf das Innenleben der Autorin fast vollständig. Lediglich der "Jetlag" wird kurz festgehalten.

Die Erinnerungsarbeit fängt schon beim Schreiben und Zeichnen an. Logos von Restaurants müssen im Nachhinein im Internet recherchiert werden. Besonders interessant ist, dass die Autorin ihre Zeit in den USA auf Englisch erinnert. Die Autorin sagt, dass ihr die Logos beim Erinnern helfen. Sie sind mehr als nur ein Name. Mit den selbst gezeichneten Logos wird im Gedächtnis ein Erleben, ein Gefühl wie in Eis eingefroren und kann später schnell abgerufen werden. Und wieder sieht man die Arbeit mit Leerstellen.

Ich finde, um auf die ästhetische Praxis zurückzukommen, dass man der Seite auch den Spaß der Autorin an ihrer Reise (und am Schreiben der Chronik) deutlich ansieht. Die Freude über die Reise springt einem förmlich aus der Seite entgegen, ohne dass dies irgendwo explizit aufgeschrieben wäre.

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Schreibaufgabe

Wenig überraschend schlage ich an dieser Stelle vor, dass ihr euch selbst mal an einer Chronik versucht. Sie muss nicht den gleichen Regeln folgen, wie das heutige Beispiel. Wichtig ist nur, dass ihr eine klare Entscheidung trefft, was festgehalten werden soll und den Rest weglasst. Eine Chronik der überhörten Gespräche ist denkbar, in der nur aufgeschrieben wird, was ihr Leute auf der Straße, im Büro oder Bahn habt sagen hören. Andere Möglichkeiten sind eine Chronik des Lesens, eine Chronik der Überraschung, eine Chronik der Wut, etc.

Wem das zu weit vom eigenen Schreiben weg ist, der kann ja mal versuchen, eine Chronik für eine seiner Hauptfiguren zu erstellen. Ihr werdet erstaunt sein, wieviel besser ihr die Figur danach kennen werdet.

Sicher hast du einen Umgang mit Notizen gefunden, der für dich funktioniert. Zeig ihn der Community und lass uns weiterhin voneinander lernen. Du kannst auch gerne anonym bleiben wie die Autorin, deren Kalender heute vorgestellt wird. Klick einfach auf den Button und schreib mir. Na los, trau dich!

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Heute möchte ich eine anonyme Einsendung vorstellen, die es mir besonders angetan hat. Es handelt sich um eine Doppelseite aus einem Wochenkalender – wobei das dem Zauber dieses Dokuments nicht im Ansatz gerecht wird. (Zum Schutz der Persönlichkeit habe ich alle Namen geschwärzt.)

Was bitte soll man von einer Kalenderseite über das Schreiben lernen können? Die Frage ist nicht unberechtigt, aber ich bitte euch, jedwede Skepsis für ein paar Absätze hintenanzustellen. Was man an diesem Kalender lernen kann, sind in meinen Augen zwei für das Notieren ganz und gar wesentliche Punkte: Disziplin und ästhetische Umsetzung. Beide Punkte haben wiederum einen Einfluss darauf, wie nützlich gemachte Notizen zu einem späteren Zeitpunkt sind.

Disziplin

Notieren ist eine Schreibpraxis, die ein erschlagendes Maß an Freiheit bietet. Schließlich sind Notizen in der Regel nicht zur Veröffentlichung gedacht. Kein:e Lektor:in wirft kritische Blicke darauf. Es gibt keine Lesenden, deren Erwartungen man enttäuschen könnte. Man kann einfach darauf losschreiben, nach Lust und Laune Gedankenfetzen, Beobachtungen und Gefühle festhalten. Dazwischen vielleicht noch ein, zwei Termine und ein paar Telefonnummern. Ich sage nicht, dass diese Form des Notierens falsch wäre. Es ist nicht mein Anliegen, irgendwem zu erklären, wie man richtig notiert. Der Punkt ist nur, dass es sehr einfach ist, ein unbewusstes Verhältnis zum Notieren zu haben.

Dieser Kalender – mag er auf den ersten Blick auch bunt und chaotisch aussehen – geht einen anderen Weg. Er hält sich strikt und diszipliniert an die Form der Chronik. Es gibt eine klare Entscheidung darüber, was hier notiert wird und was eben nicht. Im Gespräch erzählte mir die Autorin, dass sie nur "Termine und Verabredungen" aufschreibt, also die Events ihres Berufs- und ihres Privatlebens. Dazu kommen noch Erledigungen und Reisen. Aber das wars. Auf dieser Seite ist das recht schön zu sehen.

Die Disziplin der Chronik geht aber noch weiter. Drei aufeinander folgende Abende verbringt die Autorin damit, mit der gleichen Person zum Abendessen zu gehen. Einmal in einem Restaurant, einmal "auf seinem Balkon" und einmal an einem nicht näher genannten Ort. Wer ist diese Person für die Autorin? Lernen sich die beiden gerade kennen? Haben sie ein großes Thema zu besprechen, vielleicht einen Konflikt, der an einem Abend nicht geklärt werden kann? Darüber erfahren wir nichts. Gefühle sind nicht Teil der Chronik. Wir erfahren nicht einmal, ob das Essen geschmeckt hat, oder wie sich die Abende allgemein für die Autorin angefühlt haben.

Vielleicht seid ihr bereits disziplinierte Notierer:innen. Ich persönlich finde es aber nur zu leicht, mich beim Notieren in meinem eigenen Kopf zu verlieren, meine Gefühle hin und her zu wälzen und ins Schreiben eines Tagebuchs abzudriften. Der Gag ist nun, dass eine Chronik oft eine bessere Erinnerungsstütze ist als eine ausladende Beschreibung des eigenen Innenlebens. Ich habe selten Lust, seitenweise meine Gefühle von vor einem Jahr nochmal durchzukauen. Sie überlagern den faktischen Gehalt und zwingen mich geradezu, mich nicht an ein Event, sondern an meine eigenen Gefühle dazu zu erinnern. Die Autorin sagte mir, sie interessiere sich mehr dafür, was und wer in ihrem Leben relevant war und nicht. "Die Gedanken dazu habe ich ja noch", sagt sie. Ich würde sogar noch weiter gehen. Gerade die Leerstellen in der Chronik machen die Erinnerung an vergangene Ereignisse produktiv. Das Füllen von Leerstellen in der eigenen Erinnerung kommt dem Erzählen von Geschichten nämlich sehr nah.

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Ästhetik

Das zweite Elemente der Kalenderseite, das mich fasziniert, ist die ästhetische Gestaltung. Hier wird nicht einfach trocken festgehalten. Verschiedene Farben und Markierungen kommen zum Einsatz. Die Logos von Restaurants und Orten, die besucht wurden, werden entweder eingeklebt oder selbstständig gezeichnet. Es wird auf den ersten Blick klar, dass sich hier jemand Zeit genommen hat. Die Autorin erzählte mir dann auch, dass der Kalender für sie einen "Meditationscharakter" habe. Im stressigen Alltag werden extra Zeiten geblockt, an denen die Chronik ergänzt und vervollständigt wird.

Der Kalender wird damit zum Paradebeispiel einer ästhetischen Praxis. Der Zweck der Praxis liegt in ihrer Ausübung selbst und diese Ausübung wiederum ist mit Gefühlen von Lust und Kreativität verbunden. Das kann man auf der zweiten Seite besonders gut erkennen.

Die Autorin hat offenbar eine Reise gemacht. Man sieht, wohin sie geflogen ist, was sie sich dort angesehen hat, wo sie zum Essen war. Wieder fehlen Verweise auf das Innenleben der Autorin fast vollständig. Lediglich der "Jetlag" wird kurz festgehalten.

Die Erinnerungsarbeit fängt schon beim Schreiben und Zeichnen an. Logos von Restaurants müssen im Nachhinein im Internet recherchiert werden. Besonders interessant ist, dass die Autorin ihre Zeit in den USA auf Englisch erinnert. Die Autorin sagt, dass ihr die Logos beim Erinnern helfen. Sie sind mehr als nur ein Name. Mit den selbst gezeichneten Logos wird im Gedächtnis ein Erleben, ein Gefühl wie in Eis eingefroren und kann später schnell abgerufen werden. Und wieder sieht man die Arbeit mit Leerstellen.

Ich finde, um auf die ästhetische Praxis zurückzukommen, dass man der Seite auch den Spaß der Autorin an ihrer Reise (und am Schreiben der Chronik) deutlich ansieht. Die Freude über die Reise springt einem förmlich aus der Seite entgegen, ohne dass dies irgendwo explizit aufgeschrieben wäre.

Schreibaufgabe

Wenig überraschend schlage ich an dieser Stelle vor, dass ihr euch selbst mal an einer Chronik versucht. Sie muss nicht den gleichen Regeln folgen, wie das heutige Beispiel. Wichtig ist nur, dass ihr eine klare Entscheidung trefft, was festgehalten werden soll und den Rest weglasst. Eine Chronik der überhörten Gespräche ist denkbar, in der nur aufgeschrieben wird, was ihr Leute auf der Straße, im Büro oder Bahn habt sagen hören. Andere Möglichkeiten sind eine Chronik des Lesens, eine Chronik der Überraschung, eine Chronik der Wut, etc.

Wem das zu weit vom eigenen Schreiben weg ist, der kann ja mal versuchen, eine Chronik für eine seiner Hauptfiguren zu erstellen. Ihr werdet erstaunt sein, wieviel besser ihr die Figur danach kennen werdet.

Sicher hast du einen Umgang mit Notizen gefunden, der für dich funktioniert. Zeig ihn der Community und lass uns weiterhin voneinander lernen. Du kannst auch gerne anonym bleiben wie die Autorin, deren Kalender heute vorgestellt wird. Klick einfach auf den Button und schreib mir. Na los, trau dich!

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